14 Geschichten von Steve Sabor
14 Zeichnungen von Hans Scheuerecker
284 Seiten
Auflage
300 Exemplare
Bezug
Der Fabrik Verlag, 2008 – 2. Auflage 2012
ISBN 978-3-00-025082-8
wenige Restexemplare zum Preis von 17,90 Euro
Leseprobe:
Stalins letzte Rache
„Pause. Ich kann nicht mehr.“ Karl Polansky kauert sich auf die Bordsteinkante. Er schüttelt den Kopf. Vor ihm steht Ines, seine Frau, Fäuste in die Hüften gedrückt; zornig. „Du musst… Außerdem bist du ja wohl selber dran Schuld. Wer wollte denn so eine Scheißkarre haben?“
Sie konnte das so sehen. Besonders in dieser Situation. Allerdings war es Ines, die unter den tagelangen Reisen in überfüllten Zügen zwischen Jena, Cottbus,Rostock und Leipzig litt, noch mehr als er; den stundenlangen Verspätungen, halben Nächten auf kalten Bahnhöfen. Seit ihr Kind da war, wurde der Wunsch nach einer eigenen Fahrmöglichkeit beständig größer. Deshalb hielt sich Polanskys schlechtes Gewissen in Grenzen. Sein Traumauto war ein fünfzehn Jahre alter, rostiger Sapporosch auch nicht. Dafür das Einzige, das sie sich leisten konnten. Und selbst für die sechstausend Mark, die der Sappo gekostet hatte, war eine Erpressung nötig, herrlich rücksichtslos, wie sie Polansky nur in seinen ersten Männerjahren fertig brachte. Ines Eltern fütterten ihrer Tochter bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag ein Sparbuch. Darauf waren am Ende sechstausend Mark, die sie nehmen sollte, um sich später eine eigene Wohnung einzurichten, Geschirr oder Bettwäsche zu kaufen. Pures Entsetzen schüttelte die Eltern bei der Mitteilung, dass das Geld zum Kauf eines Autos – schon schlimm genug : „In Eurem Alter muss das doch noch nicht sein. Als Studenten.“- um genau zu sein eines Sapporosch – „Unmöglich. Stalins letzte Rache. Soljankaschüssel. T-34-Verschnitt…“, Ines Vater der selbst einen Trabant fuhr und auf Wartburg wartete, tobte- benötigt wurde. Sie weigerten sich, es raus zu rücken. Polansky sagte kühl und meinte es ernst: „Dann möchten wir Euch in unserer Wohnung nicht mehr sehen.“ Zwei Stunden später stand der Vater mit dem Geld vor der Tür und Polansky zog los zum Automarkt. Natürlich hätte er lieber ein Auto genommen, das einen vertrauenswürdigeren Eindruck machte. Aber unter achttausend war nichts zu kriegen. Und der Sappo hatte immerhin eine Gangschaltung die nicht am Lenkrad war, vier Zylinder und – hoffte der ungeübte Gebrauchtwagenkäufer, wenn er schon so ähnlich aussah, roch und klang – die sibirische Robustheit eines Panzers. Läuft immer. Dazu war er knallrot, was dem damaligen Hang Polanskys zu Provokation entgegen kam, und der lauteste in der Stadt.
„Hast ja Recht. Ich rauch nur noch eine, dann machen wir weiter.“ Polansky zieht eine Schachtel Karo aus der Tasche „Du auch?“ „Nein. Hör bloß auf, mir zittern schon die Knie.“ Er raucht alleine, hastig. „Na dann.“
Polansky stellt sich vor ihren Sapporosch, geht in die Hocke, drückt Rücken und Oberarme gegen die kastenförmige Motorhaube, die Stoßstange schmerzhaft kurz über der Hose, stemmt die Füße auf die Straße. Ines beugt sich durch die Fahrertür, versucht dabei, möglichst wenig von ihren fünfzig Kilo im Auto zu haben, umklammert die Handbremse mit beiden Händen. „Los!“, gibt Polansky das Kommando. Ines löst die Bremse. Das Auto will den Berg hinab, Neigungswinkel acht Prozent. Polansky hält das Gewicht, Ines springt nach vorn, geht neben ihm in die Hocke. „Jetzt!“ Sie wirft sich gegen das Auto. Dann drücken sie und drücken. Zwanzig, dreißig, vierzig Sekunden. Fuß um Fuß schieben sie das Auto den Berg hinauf. „Gut.“ Polansky fließt der Schweiß, sein T-Shirt hat schon mehr dunkle als helle Stellen: „Ich hab ihn.“ Er krallt sich tief in die Straße. Ines springt um die Fahrertür, reißt die Handbremse nach oben. „Fest.“ Ihr Mann schnauft: „Das war mindestens ein Meter.“ „Karl,“ sie sieht in an, mit einem leicht irren Glitzern im Blick, „bis oben sind es mindestens noch fünfzig.“
`Die braucht man auch, um die Karre anzukriegen´, flucht Polansky. Nach ein paar glücklichen Fahrten übers Land, entschloss sich ihr Auto, Schwiegervaters düstere Prophezeiungen zu erfüllen und verweigerte in immer kürzeren Abständen Funktion um Funktion. Als die Heizung ausfiel, zogen sie sich wieder Jacken an. „Dafür ist er im Sommer bestimmt schön warm.“ Dann klemmte der Rückwärtsgang. Polansky lernte, so zu parken, dass er nach vorn weiter fahren konnte. Da das nicht immer gelang, nahm er oft Freunde oder Tramper mit, die ihn dann rückwärts aus der Parklücke schieben mussten. Später ging der erste Gang schwer rein, der dritte gar nicht mehr. Er gab beim Losfahren mehr Gas, startete im zweiten und schaltete in den vierten. Als die Elektrik begann, verrückt zu spielen – ein Tritt auf die Bremse betätigte zugleich die Lichthupe- waren sie soweit, ihr Stipendium einer Autowerkstatt anzudienen. Die hatten schon genug Geld und keinen Termin. Die Fahrer im Gegenverkehr mussten also weiter mit kleinen Lichtspielirritationen leben. Wobei es soundso besser war, möglichst wenig zu bremsen. Gab man nicht gleichzeitig Vollgas, ging ihr Auto dabei nämlich gerne aus. Wenn es denn erst einmal an war. Anfangs waren die Startprobleme durch den Ausbau der Batterie über Nacht und das Säubern der vier Zündkerzen vorm Anlassen in den Griff zu bekommen, dann gewöhnte sich Polansky daran, auf einem Berg oder einer Anhöhe zu parken, um den Wagen dort runter rollen zu lassen. In Jena wohnen sie im Internat für Verheiratete mit Kind in der Hügelstraße; eine kurze, stark abfallende Sackgasse mit einer Wendeschleife für den Linienbus an ihrem Ende. Wenn der Sapporosch nach mehreren Zündversuchen plus Kerzenpflege nicht ansprang, rollte Polansky mit ihm den Berg hinunter, legte den zweiten Gang ein und ließ kurz vor der Wendeschleife die Kupplung kommen. Beinah empört bäumte das Auto sich auf, röhrte, stotterte und sprang an. Polansky drehte die Schleife und sprintete mit Vollgas den Berg hinauf. Ganz ein Sieger.
An diesem Freitag stand ein LKW in der Wendeschleife. Polansky überlegte. Er könnte warten, bis der W 50 weg fährt; sieht aber nicht so aus, da kein Kraftfahrer zu sehen ist. Variante zwei: Etwas weniger Gas und unten nicht die Schleife, sondern vorsichtig wenden.
Er nimmt das Risiko, schließlich sind sie im Wohnheim ohnehin die letzten, bevor das zum Wochenende schließt, und bis Cottbus brauchen sie gut vier Stunden. Spätestens dann ist die Kleine wieder dran. Das Auto rollt, quietscht, knallt, als er die Kupplung kommen lässt, faucht – aber geht nicht an. Während Polansky fluchend aussteigt, fährt der LKW an ihm vorbei. Der Fahrer grinst und winkt. „Du Arsch.“, schickt Polansky ihm nach. Er steigt wieder ein, startet schimpfend, startet, startet. Nichts, nur die Batterie wimmert immer leiser. `Bleib klar´, befiehlt sich Polansky, `wozu sonst hast du Denken gelernt. Also: These, Gegenthese… Abschleppdienst rufen – die kommen frühestens Montag. Jemand mit Auto fragen, ob er uns hoch schleppt – kein Abschleppseil und wer macht sich schon sein eigenes Auto an einem fremden Brocken kaputt. Hilfe holen und ihn wieder rauf schieben – im Internat ist niemand mehr und die Freunde, ach. Mit Ines schieben – die kriegt ´n Anfall.´ Da zumindest ist er sich sicher, sind die beiden doch lange genug zusammen, um in neun von zehn Situationen die Reaktion des anderen vorher zu wissen.
Ines ist wütend. Als sie ihr Studienortfluchtauto unten am Berg stehen sieht und viel wütender nach der ersten Schiebestunde: „So eine Scheiße. Idiotische Idee.“ `Sie hat ja Recht´, denkt Polansky, `aber das hilft uns jetzt auch nichts. Nichtmal, wenn ich es ihr sage.´ Er schweigt, steckt die Hände in die Hosentaschen. Das macht sie noch wütender: „Könnte uns ja auch mal jemand helfen… Was ist denn mit Deinen tollen Freunden, wegen denen Du…, ach was ich ICH hier her musste. In dieses Scheißnest mit seinen Scheißbergen.“ Dann fängt sie an zu schluchzen.
„Also gut. Kümmere Du Dich erstmal um die Kleine. Ich geh hoch und fang den Bus ab, der müsste nämlich auch gleich kommen. Dann geh ich in die Mensa und gucke, ob uns jemand von den Jungs helfen kann.“, er legt ihr die Hand in den Nacken, küsst ihr auf die tränennassen Augen. „Komm. Das wird schon.“
Oben, wo der Bus alle zwei Stunden aus der Friedrich-Engels-Straße in die Hügelstraße biegt um unten zu wenden, wartet Polansky, raucht und sinniert: `Was für ein Quatsch. Von allen Lösungen die Schlechteste. Eher gar keine… Aber es muss eine geben. Na, wenn mich in zwanzig Jahren jemand nach Jena fragt, fällt mir bestimmt alles Mögliche ein, aber die Nummer mit Sicherheit´.
Der Bus quält sich durch die enge Straße , Polansky steht auf der Fahrbahn und winkt. Der Busfahrer hält, kurbelt das Fenster runter: „Was is los?“ „Hallo Meister. Mir ist unten in der Wendeschleife das Auto abgesoffen. Da kommen Sie nicht durch, können Sie hier oben irgendwo drehen?“ Der fahrplantreue Fahrer zögert kurz. „I.O. Aber auf der nächsten Runde, in zwei Stunden, musst Du weg sein, sonst muss ich Meldung machen.“ „ Ok. Danke. Wir schieben ihn weg.“ Der Busfahrer lacht, tippt sich an die Stirn und fährt weiter.
Polansky geht die Straße entlang, Richtung Fuchsturm, einem Ausflugsziel von alters her. Wie immer auf diesem Weg, an den Bürgerhäusern, den Villen entlang, stellt er fest: `Eigentlich ein ganz nettes Viertel. Trotzt mit dem letzten Charme der neuen Zeit.´, und setzt diesmal hinzu: `Kaum zu glauben, dass sie uns zusehen hinter den Gardinen und niemand an Hilfe denkt.´ Er raucht noch eine, sieht nach den Enten unten an der Saale, dann geht er wieder in das Internat, klopft leise an der Zimmertür: „Alle schon weg.“ Ines, die wegen dem Kind nicht laut werden kann, bläst die Backen auf und rollt mit den Augen. „Ich geh schon mal.“, sagt Polansky.
Sie machen weiter. Neunzig Minuten haben sie noch, bis der Bus wieder kommt. Bremse lösen, mit aller Kraft schieben, schnell die Handbremse anziehen, bevor die eben gewonnenen Zentimeter wieder verloren sind. Lösen, schieben, anbremsen. Lösen, schieben, anbremsen. Als eine Truppe Schulkinder Richtung Bushaltestelle tobt, spricht Ines sie an : „Wollt ihr uns nicht helfen? Ihr seht doch, wir schaffen es alleine nicht.“ Es siegt nicht der Hilfsbereite, nicht der Neugierige; es siegt der Freche und kräht: „ Wer früher einen Esel drosch, fährt heute Sapporosch.“ Lachend ziehen die Jungs weiter. „Alles Faschisten hier.“, schimpft Ines, „selbst die Kinder – Nazischweine.“
Dann sind sie oben. Zehn Minuten vor dem Bus. Polansky umarmt seine Frau. „Na dann. Toi,toi,toi.“ „Was heißt: Toi,toi,toi?“, fragt Ines und ahnt die Antwort schon. „Ich lass ihn noch mal runter rollen“, sagt Polansky, „…Letzter Versuch…“. Ines stiert ihn an wie einen Außerirdischen. „Du weißt, dass wir ein einjähriges Kind haben… Das gerade die letzte Flasche ausgetrunken hat. Und die letzte trockene Windel umhat?“ „Pass auf, wenn er jetzt nicht angeht, lassen wir ihn stehen. Egal was passiert. Dann müssen wir eben ins Krankenhaus. Die haben Milasan, da kannst Du neue Fläschchen kochen. Und um sechs fährt noch ein Zug. Mit dem sind wir um halb zwölf in Cottbus.“
„Meinst Du?“, Ines blickt skeptisch. „Zur Not.“, sagt Polansky, „ aber pass auf, jetzt kommt er.“ Polansky steigt ein, wirft die Tür zu, schaltet die Zündung an, schlägt zweimal auf das Lenkrad, tritt die Kupplung, legt den zweiten Gang ein und löst die Handbremse.
Der Sappo dröhnte über die Autobahn, das Kind schlief, sie sangen. Angekommen in der kalten Wohnung daheim, ihre Tochter versorgt, stürmten sie durch die Betten, dass Polansky, ruft jemand Cottbus, gern diese Nacht einfällt.