NEUENWALDE

Roman, inklusive 10 Siebdruck-Grafiken von Chris Hinze, Mona Höke und Hans Scheuerecker
Pappband, 47 Seiten, 27,5 x 19 cm

Auflage
5 nummerierte und signierte Exemplare

Produktion
Siebdruck: Trümmel
Fertigung: Buchbinderei Kussagk

Leseprobe:

Neuenwalde also. Erstaunlich, womit man alles Erwartungen verbinden kann. Ich würde zur Ruhe kommen, ausnüchtern, klar werden. Ich würde alleine sein, lesen, schreiben. Möglicherweise richtiger leben. Mindestens ein Jahr, so versprach ich mir. Wenn ich dann bliebe, würde es für länger sein.

Und ich gehe einer geregelten Tätigkeit nach, am immer gleichen Ort: Der Schule. Einer Schule, seltsam, ohne richtigen Namen, kooperative Gesamtschule mit Gymnasialstufe eben. Schüler wie Lehrer nennen sie „Schneller“ nach dem Lehrer, späteren Reichstagsabgeordneten Ernst Schneller, den politische Gegner, deutsche Landsleute, in ein Konzentrationslager sperrten und 1944 dort umbrachten. Dessen Namen trug die Schule bis 1990.  Ein Bau aus den 1950er Jahren, typischer sozialistischer Klassizismus der Stalinjahre – wobei das Ausladende, das Repräsentative für eine Schule nicht das Schlechteste ist –, um die Jahrtausendwende saniert. 500 Schüler aus der Region, hätte vor ein paar Wochen nicht gedacht, dass es in der Pampa noch so viele gibt. 40 Lehrende. Frauen mehr als Männer, einige in meinem Alter, ein gut Teil älter, zwei, drei ganz Junge, etliche in den 40ern.

Die prägende Gestalt aber, an jeder Schule, ist ihr Direktor. Hier Andreas Wegener. Ich hatte ihn zum Vorstellungsgespräch im Juli nicht kennengelernt, doch 90 Minuten – Lehrer denken in Unterrichtseinheiten und das waren immerhin gleich zwei – mit ihm gesprochen. Sportlicher Typ, etwa 1,80 groß, er muss also ein bisschen zu mir aufsehen, Jeans, ordentliches Hemd, gewohnt, etwas lauter zu reden. Bemüht, mich nicht zu unterbrechen, was nur partiell gelang. Etwas älter als ich, Ostdeutscher. Der hatte also ein Studium zu ähnlichen Konditionen wie ich absolviert, war im Osten an der Schule gelandet – Auftrag: Erziehung der Schüler zu sozialistischen Persönlichkeiten – und in der Wende nicht Manns genug, sich selbst zu entlassen. Steht die Frage, wie es jemand unbeschädigt schafft, sich und seinen Schülern, auch den Kollegen zu erklären, das was man gestern noch vehement vertreten, gelehrt, offenbar zu großen Teilen, ja in der Tendenz komplett falsch gewesen. Bei mir gehen da immer die Warnlichter an und es folgt die Frage: Welche Fächer? Physik und Mathematik. Ok. Anders als Geschichte, Staatsbürgerkunde gar, nicht per se ein Ausschließungsgrund. Später hörte ich, Wegener wäre schon in der Zonenendzeit eine Vertrauensperson für Jugendliche gewesen, die eine allerorten greifbare Diskrepanz zwischen Behauptung und Wirklichkeit verzweifeln ließ. Als es nur noch gefühlt gefährlich war, ab November ’89, auch in der kleinstädtischen Bürgerbewegung aktiv. Einer von fünfen also. Jetzt jedenfalls gab Andreas Wegener, war es möglicherweise, den erfahrenen, mit allen Schulwassern gewaschenen, dennoch modern denkenden Schulleiter, den nichts mehr überraschen kann. Am Montag der Vorbereitungswoche, meinem ersten Arbeitstag an seiner Schule, Mitte August, empfing er mich in seinem Büro. Nach vorheriger Anmeldung bei der Sekretärin Frau Krüger. Ansprache an den Neuen: „So, Kollege. Schön, dass Sie her gefunden haben. Beim Vorstellungsgespräch war mein Bemühen, Sie zu überzeugen, bei uns anzufangen. Nicht, dass ich Ihnen etwas Falsches erzählt hätte… aber jetzt sind Sie da und jetzt wird es ernst. Also: Sie sind aus dem Osten, das ist erst mal ein Vorteil, hilft, Strukturen und Befindlichkeiten zu verstehen. Verschiedene Berufe – auch nicht schlecht. Unterrichtet? Nicht wirklich.“ „Zumindest wenig vor Klassen.“ „Dann anders herum: Schon mal in einem Kollegium gearbeitet?“ „In einem wie dem Ihren vermutlich noch nicht.“ „Gut. Das sind die beiden Punkte, an denen Sie zuerst arbeiten müssen: Einen Unterricht zu erteilen, von dem unsere Schülerinnen und Schüler etwas haben und Ihrer Integration ins…“, ich befürchtete, er sagt „Kollektiv“, „…Team. Wir helfen Ihnen.“

Unterrichten macht mir keinen Spaß, merkte ich schnell, ist aber unaufwendig. Klar, man fühlt  sich immer ein bisschen als Dompteur, aber es sind ja keine Raubkatzen, sondern junge Menschen. Geschlagen, beschenkt mit den Fährnissen des Erwachsenwerdens. Nicht endende Pubertät, die Suche nach der eigenen Rolle, seinem Platz, das drückende Geschlechtliche. Dass die sich nicht immer verhalten, wie ich es vernünftig fände, leuchtet mir ein. Und gelegentlicher Ärger darüber legt sich schnell, denke ich an meine vier Jahre als Pennäler. 

Die Fähigkeit, Interesse vortäuschen zu können, so zu tun, als gingen mich die Dinge anderer wirklich etwas an, half schon in einigen Berufen. Auch hier. Wir kommen gut miteinander aus. Die Vorbereitung auf den Unterricht mache ich sogar gern. Das Aktualisieren des Fachwissens natürlich, nicht das Verpacken in kleine Häppchen, die auch Unwissenden bekömmlich. Beim Beschäftigen mit dem Lehrstoff gerate ich oft in langes Kramen in Literatur und Geschichte und eine Erinnerung bleibt, warum ich als Jüngling diese Fächer gewählt. Da ihr direktes Studium unmöglich war – eine Bewerbung zum Germanistikstudium etwa setzte ein Einser-Abitur und drei Jahre Armee voraus – nahm ich die Verpackung, die im Angebot. Pädagogik: Fachrichtung Deutsch/Geschichte.