Spielgefährten

14 Kurzgeschichten mit Illustrationen von Hans Scheuerecker
342 Seiten, 19 x 13 cm

Auflage
300 Exemplare

Bezug
Der Fabrik Verlag, 2016
ISBN 978-3-98-180692-2
17,90 Euro

Leseprobe:

Vernünftig. Friedrich

Es regnete. Goss. Stundenlang. Kein leichter Sommerregen, nein, einer mit herbstlicher Wucht. Die Tropfen sprangen auf der Terrasse, auf der Straße vor meinem Zimmer. Ein guter Tag, melancholisch zu werden und so kramte ich in alten Texten, Briefen, den Kopf im Leerlauf. Vertrödelte die Stunden, genehmigte mir am frühen Nachmittag schon Wein und war abends, als es dann aufgehört zu regnen, unentschlossen. Es dabei für heute bewenden zu lassen, mit Schinkenspiegeleiern, die aus den Kühlschrankresten herzustellen und ein paar Gläsern. Ein Tag, der nichts genutzt, nichts geändert, der aber auch nicht schädlich, nicht schädlicher als andere jedenfalls, gewesen. Oder doch noch raus zu gehen. Ein Restaurant, gutes Essen, etwas Kunst, Zerstreuung zum Nachtisch vielleicht. Natürlich ging ich.

In einer Galerie, Linien- oder Auguststraße, Vernissage oder Finissage, überfällt mich später, Rotweinglas voran, ein Mann meines Alters. „Mensch, Karl, was ist nur aus Dir geworden?“ Was für Frage und die auch noch im ersten Satz, noch vor „Wünsche einen guten Tag.“ Das war der zweite. Und von wem bloß? Kennst du den? Vielleicht ein Verlorengegangener aus den Gesprächen, Vorstellungen, Belanglosigkeiten der letzten Jahre oder einer von ganz früher. Mittelgroß, schlank, die Wangenknochen deutlich erkennbar, was ja jedem einen Zug von Askese gibt. Teure Sachen, Jeans, Hemd, Jackett. Randlose Brille, die Haare kurz, korrekt rasiert. Davon gibt es viele. Besonderheiten? Die großen dunklen Augen vielleicht. Nein, keine Ahnung. „Entschuldigen Sie, Ihre Frage unterstellt, dass Sie etwas anderes erwarten dürften und im Übrigen: Wie kommen Sie drauf?“ Er stutzt kurz, lächelt. „Das mit den Erwartungen an die anderen, an sich selbst, ist ja meist eine ambivalente Sache. Dass Du mich noch erkennst, beispielsweise, hielte ich für erwartbar.“ „Tja,“ sage ich, mich in Bewegung setzend, „leider nein. Ihre Enttäuschung hält sich hoffentlich in Grenzen.“ Er stellt sich halb in den Weg. „Warte kurz. EOS Dr. Theodor Neubauer. Jetzt eine Idee?“ Die kleine ostdeutsche Großstadt, mehr als 30 Jahre her. Ein Klassenkamerad? Nein, die sind eingegraben in den Erinnerungen, geistern durch die Träume. Ich schüttele den Kopf: „Auf der war ich, ja. Aber leider …“ „Wirklich vergessen? Friedrich. Friedrich Riether.“

Langsam dämmert es mir. Friedrich Riether, der schmächtige Junge mit einem ähnlich seltsam unmodern anmutenden Namen wie ich. Die anderen hießen Uwe, Peter, Thomas oder Torsten. Eine Klasse höher. Einer mit den verbotenen Büchern, Platten, Gedanken. Der selbst Lehrern gelegentlich widersprach. Der von mir und einigen anderen dafür meist heimlich bewundert wurde, dessen Nähe wir – vorsichtig – suchten und sie öffentlich mieden, als er der Schule verwiesen wurde. Warum eigentlich? Was Politisches natürlich, aber was genau? „Stimmt. Jetzt erinnere ich mich. Du bist damals von der Penne geflogen. Weshalb eigentlich?“ Riether lacht kurz auf: „Die Russen sind damals in Afghanistan einmarschiert. `Intervention der Sowjetarmee auf Bitte der dortigen Regierung´, wie es offiziell bei uns hieß. Im Dezember 1979. Die CIA finanzierte und bewaffnete den Widerstand der örtlichen Mudschahedin und der ganze Westen, selbst Israel, unterstützte deren Allianz islamischer Parteien. Unterstützte ihren Antikommunismus, den Rest – der uns bis heute, der uns zunehmend verfolgt – wissend in Kauf nehmend. Aber das war natürlich nicht die Dimension, in der ich als junger Mensch dachte. Meine Eltern waren ja in kirchlichen Zusammenhängen aktiv und so vorgeprägt, fand ich den Krieg gegen das Volk dort einfach ungerecht.“ „Und da hast Du dagegen protestiert.“ „Nein, nein. Das war der Grund, der Anlass ein anderer. Über Afghanistan wurde in der Schule gar nicht öffentlich diskutiert und dass ich alleine aktiv werde – so weit war ich als 16-Jähriger noch nicht. Eine eigene Erklärung wurde erst notwendig, als die westlichen Länder wegen der Besetzung die Olympischen Spiele 1980 in Moskau boykottierten. Da sollten alle Schüler unterschreiben, dass sie dagegen sind, weiß nicht mehr genau was, aber ich habe die Unterschrift verweigert, blieb in den darauf folgenden Gesprächen stur und flog dann raus.“ „Stimmt. Boykott der Olympischen Spiele. Auch das hatte ich schon vergessen.“ „Nicht vergessen, Karl – verdrängt.“

Mir wurde es für ein zufälliges Wiedersehen mit einem unvermissten Bekannten von ganz früher langsam anstrengend, zumal ich einen friedlichen Tag belanglos austrudeln lassen wollte. Aber interessant klang er irgendwie doch, eine Saite – prosaisch gesagt –, die lange nicht benutzt, war angeschlagen und da ich in der Grundverfassung ein viel zu höflicher Mensch bin, verabredeten wir uns zu einem zweiten Treffen. Nächsten Freitag, zum Abendessen, ein gutes Restaurant in der Nähe. „Da kannst Du mir dann auch sagen“, verabschiedete ich ihn, „woher Du zu wissen meinst, was aus mir geworden ist.“ Friedrich lächelte still: „Das kann ich in kurzer Form auch gleich. Ich sehe Dich, Du stehst vor mir und zudem, warte, lese ich Deine Bücher. Aber darüber nächstes Mal mehr.“

`Was ist nur aus dir geworden?´, fragt man sich, frage ich mich zumindest öfters. Mit Antworten, die nur einem selbst zu zumuten. Doch fragt das jemand anders, fallen sie notgedrungen weniger ehrlich aus, schwingt immer schon ein bisschen Abwehr, eine Rechtfertigung mit. Ja, was kann er denn sehen? Einen lässigen Angeber vielleicht, selbst bei den Jungen einer der Längsten im Saal, fünf Kilo über Kampfgewicht, erste graue Haare; einen, der den Künsten zugetan, nicht viel – und wenn doch: meist schlecht – von sich reden macht und irgendwie durch´s Leben kommt. `Er wird´s mir ja erzählen´, dachte ich auf dem Weg in´s  Café Madrid.

Wir essen gut und trinken einen schönen, schweren Rotwein. Auch das Gespräch kommt recht schnell in Fahrt. Beim Nachdenken über das Treffen neulich war mir vieles aus der längst vergangenen Schülerzeit wieder eingefallen. Wie wir uns im Hinterzimmer einer Kneipe Gedichte vorgetragen, die der verfemten Schriftsteller und die ersten eigenen. Wie wir im Theater, 100 Kilometer weiter in Berlin, eine Inszenierung von Heiner Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ sahen. Begeistert und bang. Wie Friedrich von der Schule und aus unseren Kreisen verschwand. Ich sage es ihm und wie erstaunlich doch wäre, was beim Kramen in der Erinnerung so alles zum Vorschein kommt. „Ja“, antwortet Friedrich lächelnd, „ein interessantes Feld, mit dem ich mich auch beruflich beschäftige.“ „Was machst Du denn, wenn ich fragen darf?“ „Du darfst. Von der Profession bin ich Analytiker, Psychoanalytiker, um genau zu sein.“ „Oh. Schöner Beruf.“ „Deinem ja nicht ganz unähnlich. Auch wenn der künstlerische Aspekt fehlt.“ Da waren wir dann also schon bei den Lebensläufen. Natürlich frage ich, wie es bei ihm nach dem Rauswurf aus der Schule weiterging. Zuerst sei er enttäuscht gewesen, erzählt Friedrich, dass es Trost und Solidarität, die er in der Familie, in der Kirche erfuhr, nicht auch von seinen Mitschülern gab, jedenfalls von denen, die Mitverschwörer hätten sein können – „Du beispielsweise, Karl und die anderen aus unserem Donnerstag-Zirkel.“ „Du warst damals auf einmal verschwunden, bist nicht mehr zu unseren Abenden in der Kneipe gekommen.“ „Ich hab darauf gewartet, dass Ihr zu mir kommt.“ „Hätte der eine oder andere vermutlich auch tun sollen – ja. Aber wir hatten anderes zu tun und sicher auch Angst, dass uns Ähnliches widerfahren könne.“ Eine Lehrstelle auf dem Bau wäre noch frei gewesen und er schließlich Baufacharbeiter geworden. „Das entsprach nun so gar nicht meinen Neigungen. Vielleicht erinnerst Du Dich, meine Eltern hatten versucht, mir eine klassische Bildung zu ermöglichen, so weit wie es in der DDR eben ging. Musikausbildung – Klavier -, Französisch, Englisch – nicht nur Russisch, Literatur, Geschichte – weit mehr, als sie uns davon an der EOS wissen ließen. Gleich nach Abschluss der Lehre habe ich mich aus dem Baustaub gemacht.“ Wäre Hilfserzieher in einem kirchlichen Kindergarten geworden und dann Pfleger im Krankenhaus, hätte das Abitur später doch noch nebenbei an der Volkshochschule gemacht und sich jährlich um ein Medizinstudium beworben. „Bin bei der Vorgeschichte natürlich immer abgelehnt worden und so am Krankenhaus geblieben. Aber 1989 wurde dann ja endlich gelüftet, da war ich 26 und hatte plötzlich all die gestohlenen Chancen zurück. Plötzlich die ganze Welt vor mir.“ Er schüttelt versonnen den Kopf und wir nehmen einen kräftigen Schluck vom Roten. Auf eine Zeit, die uns vorher nicht möglich schien; von der man heute kaum noch glauben mag, dass es sie gab. Zum Studium ging er dann bei der ersten Gelegenheit 1990 nach München. „Warum München?“ „Ich hatte mich die ganzen Jahre nebenbei mit Psychologie beschäftigt. Gelesen, was man hier so bekam, im Krankenhaus mit den Ärzten gesprochen und immer mal wieder auf der Psychiatrie ausgeholfen. Und in München gab es, gibt immer noch, das Riemann-Institut.“ Das Studium dort, viele Vorlesungen direkt beim Meister, sei sehr beglückend gewesen. Vom Erkenntnisgewinn her, der Möglichkeit zu studieren überhaupt, dem Gedankenaustausch unter den Kommilitonen und auch wegen der Partnerin, die sich fand. „Ein Jahr nach mir immatrikuliert, wir verstanden uns prächtig – gleiche Interessen, gleiche Vorstellungen von der Welt. Es waren wunderbare Jahre. Nur noch mehr genießen hätten wir sie sollen.“ Nach dem Studium machte er noch den Doktor, begann eine Praxis in München aufzubauen und als seine unterdessen angetraute Frau ihr Studium gleichfalls erfolgreich beendet hatte, wollten sie die klügsten und besten Eltern werden und zeugten einen Sohn. Der blieb, fünf Jahre alt, als ihre Verbindung getrennt, der Schwur gebrochen, bei seiner Mutter, lebt heute weit weg in Amerika. Dem Vater scheint es schwer zu fallen, darüber zu sprechen. „Weißt du, Karl, das ist das Bittere, wir wollten es gemeinsam so gut machen, schließlich wissen wir ja, wie es gehen sollte und haben es nicht geschafft. Ich bin mir nicht sicher, woran es lag. Gescheitert – ob trotz oder gerade weil man sich in der Psyche, manchmal denkt man, in der Seele sogar des anderen auskennt. Schade jedenfalls.“ Ich versuche, eine kleine Abbiegung zu nehmen. „Klassischer Fall von Berufspech. Aber ist die Psychoanalyse nicht soundso gerade auf dem absteigenden Ast?“, werfe ich ein. Friedrich lacht. „Seit 80 Jahren fast. Sagen ihre Gegner. Aber ich bin von ihr immer noch fasziniert und Patienten habe ich auch genügend. Mehr als ich annehmen kann. Bin mit der Praxis dann bald nach der Trennung, 2002, nach Berlin gezogen.“ „Na, dann ist ja wenigstens für den Unterhalt gesorgt“, flachse ich, „und da ich nun Deine letzten 30 Jahre im Zeitraffer kennen gelernt, soll ich Dir was aus meinen erzählen?“ Wieder sein leises Lächeln. „Gerne. Aber geh davon aus, dass ich manches schon weiß. Nicht die Fakten unbedingt. Doch die Stimmungen, die Verfasstheiten bestimmt.“ „Es ist eine alte, wiederkehrende Reaktion meinerseits, Friedrich, zu betonen, dass der Autor nicht gleichzusetzen mit seinen Figuren.“ „Ich weiß, ich weiß. Aber irgendwo herkommen, müssen die, muss es ja doch.“

Ein anregender Abend, auch für mich, der immer mehr an neuen als an alten Geschichten interessiert ist. Die Mischung beider stimmte und so verabredeten wir uns für die nächste Woche. Gleiche Zeit, gleicher Ort. Dabei blieb es dann – Freitag, 20 Uhr im Café Madrid.

Langsam, bei Essen – es hätte mich gewundert, wenn er kein Vegetarier gewesen wäre -, Rotwein, Tischgesprächen lernte ich einen in sich ruhenden Mann kennen. Klug, gewissenhaft, prinzipientreu, mit einem Humor, der mir verständlich. Einer, der mich in Erstaunen versetzen konnte, mit seiner Ernsthaftigkeit und seiner Überzeugung, durch ständiges Arbeiten an sich selbst, durch Erkenntnis, ein besserer Mensch werden zu können. Leichtes Unbehagen inklusive – bei mir. Auch ich erzählte viel – Lustiges, Ernstes, aber diesbezüglich konnte ich keinen relevanten Beitrag bringen. Was der Psychologe sofort bemerkte und gelegentlich darauf zurück kam. Später, nach etlichen Abenden, schon mal tadelnd. „So gar keinen Entwurf von sich zu haben, Karl, von dem, der man werden will, kann nicht richtig sein, ist nicht gut.“ „Ja, Du, mit Deinem guten Menschen“, wich ich aus, „dann sag mir doch bitte mal, wie der aussehen soll.“ Er tat es wirklich.

„Auch wenn Du Dich davor verstecken willst, Karl, es muss doch das Wesen eines jeden sein, sich zu entwickeln. Der Mensch muss ein werdender sein. Mit den Zielen Vollkommenheit und Vollständigkeit. Warte …“, er bemerkte meine hochgezogenen Augenbrauen, „ich weiß – wir sind unvollkommen und unvollständig, aber annähern können wir uns diesen Zielen. Wir können uns unseren Ängsten stellen, können über unsere jeweilige Entwicklungsstufe hinaus wachsen in eine neue Freiheit, eine neue Ordnung und Verantwortung. Die Chancen, die diese Gesellschaft dem Individuum dafür lässt, sind größer als je zuvor. Es liegt doch an jedem selbst, sich treu und trotzdem auf dem Weg zu bleiben. Die höchste menschliche Reife, die kaum jemand erreicht, wäre, sich im hingebenden Vertrauen dem Leben und den Menschen zu öffnen, ohne die eigene Individualität aufzugeben. Wäre, die Vergänglichkeit akzeptieren zu können und doch im Heute Sinnvolles zu schaffen, wäre, die Gesetzmäßigkeiten des Lebens erkannt zu haben, ohne vor ihnen zu resignieren und – dann bin ich auch fertig, Karl, da kannst Du auch ungläubig drein schauen, ich glaube daran und strebe danach.“

Zugegeben, manchmal war es anstrengend mit ihm. Doch unterdessen hatte ich mich an den Austausch gewöhnt und daran, dass Friedrich zum Abschluss sagt, jetzt, da er meine Lebensumstände näher kennt: „Nimm Du Dein Geld mal schön für Miete, Kunst, Ausflüge und lass mich hier bezahlen. Bitte.“ Und, klar, es schmeichelte meiner Eitelkeit, mit einem gebildeten Menschen über alles Mögliche zu reden, gelegentlich sogar – obwohl ich das selten mache – über meine Texte. Zumindest beantwortete ich seine Fragen dazu. Immer mit dem Hinweis, dass dies nicht die Vorstufe sei, mich bei ihm auf die Couch zu legen. Sicher, wenn man jemand kennt, der die Psychoanalyse beherrscht, denkt man darüber nach, eine machen zu lassen. Friedrich hätte eine gemacht, ich spürte es. Aber wozu? Ich weiß ja, was raus kommt.

Narzissmus würde sicher zur Diagnose gehören. Meiner findet einen Ausdruck in Festen, die ich selten und seltener als vor Jahren, aber doch noch zwei-, dreimal im Jahr gebe. Im Salon, auf der Terrasse: Getränke gut wie reichlich, als Büfett was die Küche eines Restaurants um die Ecke her gibt, Gesang, Gedichte – meine – werden vorgetragen, Musik, später Tanz und alles soll sich um den Gastgeber drehen. Maximal 30 Gäste sind geladen. Maler und Malerinnen, zwei alte Literatenfreunde, ein paar Ärzte, selbstverständlich der Verleger, der Vermieter, der Anwalt, manchmal rutscht eine oder einer aus den Galerien mit rein, immer ein kleiner Pulk vom Theater und Leute, mit denen ich gerade zu tun habe. Zum Sommerfest lud ich also Friedrich ein. Der zierte sich erst – „Ich weiß nicht, ob das meine Form von Gespräch ist“- und ließ sich – „Du wirst schon Partner finden, notfalls mich und Dich am Ende nicht zielfrei amüsieren müssen. Was Dir im Übrigen nicht schaden würde“ – dann doch überreden. Und neugierig sollte er schon von Berufs wegen sein. Das eine kleine Provokation dabei – ich will es nicht leugnen. Nun bin ich nicht in der Position, einer attraktiven Frau, die wie zufällig bei den Gästen ist, zu sagen: „Kümmere Dich mal um den.“ Und wenn ich´s wäre, würde ich ihr zuerst wohl sagen: „Kümmere Dich um mich.“ Aber ich weiß, was passiert, wird gestreut: Da ist ein Arzt mit Geld. Große Praxis. Kunstinteressiert. Selbst die Aufmerksamkeit von Schauspielerinnen, die doch sonst meist mit sich, ihren Rollen, dem Theater beschäftigt sind, steigt automatisch.

Es kam nicht ganz so wie angenommen. Erwartungsgemäß erregte der reiche Arzt Aufmerksamkeit, doch später moserte eine die sich an ihm versucht „Hoffnungsloser Fall. Der reagiert nicht. Wenn der einen anhimmelt, dann Dich.“ Bei mir hatte sich Friedrich gegen Mitternacht verabschiedet, war gegangen und am Freitag beim Essen leicht ungehalten. „Mir so eine kleine Schauspielerin auf den Hals zu hetzen, Karl, das gehört sich nicht.“ „Ich hab niemand aufgehetzt und an Deinem Hals hing, jedenfalls als Du gingst, auch niemand.“ „Du weißt schon, was ich meine.“ „Friedrich, an der Stelle bin ich unschuldig. Wirklich! Nebenbei: Es wäre ja auch nicht das Schlimmste, Avancen – bekamst Du welche – anzunehmen. Musst ja nicht immerzu vernünftig sein.“ „Muss ich nicht, nein – aber ich will. Ich denke, es ist vernünftig, vernünftig zu sein. Offenbar im Gegensatz zu Dir.“ „Ja, ich finde es oft vernünftig, unvernünftig zu sein.“ Es folgte ein längerer Diskurs über Vernunft und Unvernunft. Im eigenen Leben, der Wissenschaft, der Gesellschaft, in der Kunst. Ich landete beim meritorischen Ansatz, einem Klassiker der verordneten Vernunft.

Kam selten vor, aber diesmal wurde es eine zweite Flasche Rotwein. „Meritorisch?“ Schön, dass auch Friedrich mal was nicht wusste. „Von lateinisch meritum = das Verdienst?“ Das weiß ich nun wieder nicht. „Kommt jedenfalls aus der Wirtschaftswissenschaft. Wenn der Staat in den Markt eingreift und den Absatz von guten, also gewünschten Sachen wie Altersvorsorge, E-Autos, Öko-Strom und so was durch Niedrigsteuern oder andere Zuschüsse fördert, und demiritorisch ist folglich, wenn er alles Schlechte teurer macht, als es eigentlich wäre – Alkohol, Zigaretten oder auch das Glücksspiel.“ „Und das heißt, bezogen auf Dich, dass Du Dich laufend bestraft fühlst, weil es Dich deutlich zu den sanktionierten Dingen zieht?“ „Nicht ganz, Bücher gehören ja auch zu den meritorischen Gütern, aber im Kern, ja, da zieht es mich oft zum Ungesunden, Unvernünftigen. Und da wir schon einmal beim Theorietisieren sind: Um Deine Frage vom ersten Abend zu beantworten, was Du natürlich genauso gut kannst, ein Nihilist ist aus mir geworden, ein nihilistischer Fatalist.“ „Das glaube ich Dir nicht, jedenfalls nicht ganz. Deine Wut über vieles, auf viele – die Du wie anderes mehr zu verbergen suchst, die dann aber doch immer mal wieder aus Dir raus bricht – spricht dagegen. Auch Dein Sammelsurium an Ängsten spricht dagegen. Ohne dass Du bei mir in Behandlung gewesen, glaube ich zu wissen, in Dir ein seltenes Exemplar zu haben, das gleich alle vier – eigentlich ja konträren – Grundängste in ungewöhnlich hoher Dosierung plagen. Die Angst vor zu enger Bindung, vor dem Verlassenwerden, vor dem Ungewissen wie auch vor dem Endgültigen. Und mal angenommen, Du wärest der Nihilist, für den Du Dich hältst, warum dann die ganzen Pläne nach morgen hin? Die wären gegen jede fatalistische Vernunft.“ Was soll man dazu sagen? „Mensch, Friedrich. Du bist so vernünftig, nein – warte – so GUT. An Dir ist ein Seelsorger verloren gegangen.“ „Wieso? Bin ich doch.“ „Entschuldige bitte, ich meinte jetzt eher die religiöse Fraktion. Aber egal. Ich danke Dir für´s Mut machen – jedenfalls was morgen und die Wut betrifft.“ Er lächelt, schüttelt den Kopf. „Du verstehst mich miss. Ein Mutmacher bin ich nun wiederum nicht, ich bin Analytiker. Eventuell kann ich Dir zeigen, was in Dir angelegt. Entwickeln musst Du es selbst.“

Die dritte Flasche hätte nicht sein müssen. Vielleicht. Ich rede dann offener als sonst und nötig. Auch emphatischer. Das Glas gefüllt, erhoben, hob ich an deren Grunde also an: „Ich will nicht feierlich klingen, aber das macht es unweigerlich, wenn ich sage: Ich glaube, Friedrich, Du bist auf dem richtigen Weg, ein guter Mensch zu bleiben und wohlmöglich ein noch besserer, ein vollkommener fast, zu werden. Und vernünftig bist Du ja soundso.“ „So sieht es aus, so musst Du das sehen. Aber vielleicht war einfach die Versuchung nur nicht groß genug, unvernünftig zu werden.“ Friedrich zögert, lächelt traurig: „Vielleicht müsstest Du sie sein, die Versuchung.“