Aktuelle Texte
Kolumne „hermann“
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- Oktober 2010: Die Debatten werden heftiger…
- November 2010: Der Novemberblues ...
- Dezember 2010: Alles eine Frage des Maßes ...
- Januar 2011: Die Laune ist besser als die Lage …
- Februar 2011: Die Partei, die Partei, die hat immer Recht! …
- März 2011: Der Irrsinn ist unter uns ...
- August 2012: Wenn Du merkst, das Pferd auf dem Du reitest ...
- September 2012: Les savants ne sont pas curieux…
- Oktober 2012: Wir haben es halt gerne bunt …
Wir haben es halt gerne bunt …
sagt Walther, der Freund aus Südtirol, aus Unterschiedlichkeit wird Vielfalt und außerdem gehört es sich ja wohl, dass jeder die gleichen Möglichkeiten hat in unser aufgeklärten Gesellschaft. Worüber wir reden? Über ein Thema, das in den nächsten Jahren zunehmend in die öffentliche Wahrnehmung sickern wird, sickern MUSS – über Inklusion. Kurze Erklärung? Etwa eine Milliarde Menschen lebt weltweit mit einer Behinderung, in Deutschland sind es knapp 10 Millionen – also jeder achte. Wir können stolz darauf sein, finde ich, unser Gemeinwesen so gestaltet zu haben, dass der großen Mehrheit von uns klar ist – diese Menschen besitzen die gleichen Rechte wie die „Normalen“ (wer immer das ist – da ringen wir ja schon lange mit einer Definition), gehören dazu, dürfen nicht ausgegrenzt werden.
Leider herrschen in den meisten Ländern noch vordemokratische Gesellschaftsmodelle, die in Frage stellen und oft ablehnen, was hier längst vereinbart: Die Gleichberechtigung von Frauen, Freiheit der Religion oder der sexuellen Präferenzen. Da wird über so etwas weniger nachgedacht. Dennoch fanden sich 40 Staaten, die im Jahr 2006 die UN-Behindertenrechtskonvention beschlossen. In Deutschland wurde der Vertrag im Februar 2009 ratifiziert. Seitdem rollt der Zug. Wohin? Ich zitiere mal eine halbwegs geglückte Beschreibung unseres nationalen Aktionsplanes: „Ziel ist, dass Menschen mit und ohne Behinderungen von Anfang an gemeinsam in allen Lebensbereichen selbstbestimmt leben und zusammenleben. Auf Basis des Grundsatzes gleichberechtigter Teilhabe werden für Menschen mit Behinderungen die gleiche Qualität und der gleiche Standard in den jeweiligen Lebensbereichen erwartet, der auch für Menschen ohne Behinderungen gilt. Es geht um gleichberechtigte Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, um Chancengleichheit in der Bildung, um berufliche Integration und um die Aufgabe, allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit für einen selbstbestimmten Platz in einer barrierefreien Gesellschaft zu geben. Dies bezieht eine dem individuellen Bedarf und der jeweiligen Lebenssituation angepasste Unterstützungsleistung ein. Wenn wir unsere Welt so organisieren, dass sie für alle Menschen offen, zugänglich und verständlich ist, ändert sich unsere Alltagskultur – angefangen bei der Gestaltung und Beschaffenheit von Alltagsgegenständen über veränderte Vorschriften und Normen bei der Gestaltung unserer Infrastruktur und unserer Medien bis hin zu strukturellen Änderungen etwa im Bildungs-, Gesundheits-, Sozial- oder Verkehrswesen. Noch gravierender aber wird die Weiterentwicklung unserer Vorstellung von Normalität sein: Wir werden im Alltag, in Geschäften und Straßen, im Kindergarten, in der Schule und im Hörsaal, in der Straßenbahn und bei der Arbeit, im Fernsehen, im Kran- kenhaus, im Restaurant und im Schwimmbad Menschen begegnen, die ihr Leben auf der Grundlage unterschiedlichster körperlicher, intellektueller und mentaler Voraussetzungen mit großer Selbstverständlichkeit neben- und miteinander organisieren. Und wir werden dies kaum wahrnehmen, weil es Normalität geworden ist. Unser Bild vom Menschen und vom Leben wandelt sich. Auch unsere Vorstellung davon, was ein geglücktes Leben ausmacht.“
Das ist der Plan. Unsere Welt wird eine andere sein. Jetzt müssen wir nur noch sagen, was das genau heißt und alle dafür gewinnen, die skeptisch sind. Um mal mit dem Feld zu beginnen, das gerade exemplarisch beackert wird – der Auflösung von Förderschulen. Das Land Brandenburg beschloss, an denen keine neuen Schüler/-innen mehr aufzunehmen. Die Kritik schwillt gerade an. Unberechtigt, denn für ihre Besucher sind sie (zumindest berufliche) Sackgassen; ihre Abschlüsse berechtigen nicht zu einer regulären Ausbildung. Bei Walther in Italien sind sie da schon ein Stückchen voran. Dort gibt es seit 30 Jahren keine Förderschulen mehr. Alle lernen in einer Schule. Wie soll das gehen?, ist hier oft zu hören. Es geht. Allerdings, das ist ja klar, müssen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Räumlich (barrierefrei) wie personell (zusätzliches Personal). Natürlich kostet Inklusion erst einmal Geld. Viel Geld vermutlich. Woanders haben wir das doch auch – und hier sind die Gewinne garantiert.
Was mich etwas unruhig macht: Eine Diskussion, die noch nicht richtig begonnen hat, droht schon wieder ins Negative zu kippen. Statt Chancen werden Verhinderungsgründe gesucht. Hier müssen die Menschen im öffentlichen Raum – u.a. also Politik, Medien, Verwaltung – erklären und begeistern. Am Ende (der Aktionsplan reicht bis ins Jahr 2020) wird nicht alles sein, wie es jetzt die reine Lehre ist. So kann ich mir nur schwer vorstellen, Anträge und Bescheide der Ämter, Verträge der Firmen, in Formulierungen zu lesen, die selbst mir verständlich sind. Wahlweise auch einem Menschen mit Lernbehinderung. Da werden wohl – „Klagesicherheit“ heißt das Zauberwort – aus verständlichen Gründen die Juristen vor sein. Auch die Annahme, Gebärdensprache würde in allen öffentlichen Einrichtungen und letztlich in jedem Betrieb gleichberechtigt benutzt werden können, scheint mir unrealistisch. Aber auf den Weg dahin können wir uns wenigstens machen.
Nun seid doch nicht wieder so ängstlich. Etwas Elan, ein bisschen Optimismus, lacht Walther, dann wird das schon. Und bunt haben, wollt ihr es doch auch ganz gern. Oder? Oder?